In mehr als einer Welt
Zu den Landschaften Christoph Drexlers
Obwohl die Häuser von Christoph Drexler so allein stehen wie diejenigen auf den Bildern von Edward Hopper, wirken sie nicht so einsam und bedrohlich. Sie sind mögliche Zufluchtsorte, architektonische Zeugnisse der Zivilisation unter dem blauen Himmel zwischen Nordsee und Mittelmeer: Bauernhäuser, Heuspeicher, Scheunen, Hochsitze, Brücken. Die Abwesenheit der Menschen hat allein noch nichts Unheilverheißendes. Auch sind die freien Flächen, aus der die Solitäre der Architektur ragen und die Schlagschatten, die sie, die Scharfkantigkeit der Gebäude noch unterstreichend, in der stillstehenden Nachmittagshitze werfen, nicht mit jenem heimlichen Auge gezeichnet, das in den Gemälden und Kalligrammen Giorgio de Chiricos hinter die Erscheinung aller Dinge geht. (1)
Christoph Drexlers Häuser sind Nutzbauten, die Zuflucht bieten ein wenig abseits der städtischen Siedlungen, somit Urformen dessen, was das Haus schon von seiner etymologischen Bedeutung her meint, etwas Umhüllendes und damit Bergendes, eine Schutzzone zum temporären Rückzug aus der Welt. (2) Am ehesten den Hütten und Unterständen in den Bergen vergleichbar, die Christoph Drexler aus seiner Kindheit kennt.
Die Verweisfunktion von Drexlers Landschafts- und Architekturbildern in die Kunstgeschichte greift weiter, über de Chirico und Hopper hinaus, zurück in die Welt der italienischen Meisterwerke der Frührenaissance, als Giotto umzusetzen begann, worum die Franziskaner im 13. Jahrhundert
gebeten hatten. Nämlich die Bilder brauchbarer für das Volk und für die Prediger zu machen und die in der Schrift enthaltenen geometrisch fassbaren Dinge körperhaft gestaltet darzustellen. (3)
Bibelszenen in Kirchenfresken zeigten fortan Gelände von echter Tiefenerstreckung, wo früher Goldgrund lag, und Figuren, die vor- und zurücktreten konnten. Die biblischen Geschehnisse fanden
nicht länger im luftleeren Raum statt, sondern in realistischer Umgebung, etwa in Rom oder in den biblischen Felsen- und den italienischen Hügellandschaften. In den Hintergründen der Meister des 13. und 14. Jahrhunderts wächst Drexler ein respektabler Fundus von Architekturen in der Landschaft zu. Wie eine Art Ausschnittvergrößerung wirken seine Haus-Bilder bisweilen, befreit von ihren früheren Bedeutungen, wo Licht- und Zahlenverhältnisse eine Rolle spielen konnten, befreit von historischen und biblischen Anspielungen. Lediglich den wichtigsten Aspekt, den sie im Original verkörpern, den der räumlichen Weite, tragen sie mit hinein ins neue Bild.
Drexlers Ansichten sind jedoch keine vergrößerten Details jener Werke, sie sind eigenständige Arbeiten, die nur assoziativ in diese Richtung greifen. Aufgrund ihrer etwas verblichen wirkenden Farbigkeit, der stets eine Beimengung von Weiß innewohnt, aufgrund der ostentativen Leere zwischen den Gebäuden, die das ganze Bild in die Ferne rücken, aufgrund ihrer scheinbar noch etwas unbeholfenen Perspektive und aufgrund der Delikatesse ihrer Oberfläche: gerade die kleinen Ölbilder auf Karton lassen den stets dem Motiv folgenden Pinselstrich besonders malerisch, in streifiger Pastosität, erscheinen. Bisweilen erinnert eine Körnigkeit im Material an die Rauheit der Freskomalerei und die matte Textur alter Kirchenwände. Auch die geringe optische Tiefe der dadurch fast kulissenhaft wirkenden Scheinarchitekturen, wie sie etwa im Franzlegendenzyklus noch anzutreffen ist, scheint in Drexlers Bildern noch auf: nichts zieht den Blick in die Tiefe. Die Landschaft ist flächig, fast schon scheinen die Farbebenen nach außen zu klappen statt den Blick nach innen zu ziehen. Drexler geht so weit, dass er auch auf Raumtiefe verzichtet, welche durch Farbveränderungen entsteht, die sich historisch der frühe Naturstil erst erarbeiten musste und die erst im Übergang zur Hochrenaissance perfektioniert wurde.
Es war ein Markstein in der Geschichte der Weltbetrachtung, als den Italienern die Bedeutung der Landschaft für die Seele bewusst wurde. (4) Über die Landschaften jener Bilder bewirken die Arbeiten Christoph Drexlers einen assoziativen, gedanklichen Rückbezug und tragen uns zurück in eine Zeit, als Italien, wie Goethe in seiner Einführung in die Propyläen bemerkte, ein großer Kunstkörper war. (5) Drexler stellt auch uns an die Schwelle dieses Gedankens der verlorenen Einheit, welcher Goethe nachtrauert. Was er in seinen Bildern beschwört, gibt es so nicht mehr – es ist aber in unserer kollektiven Erinnerung als Zeichen einer früheren Schönheit, Wahrheit und Ganzheit existent.
Marcel Proust hat in seiner Liebe Swanns eine vergleichbare Situation beschrieben, bei der es indes nicht um Architektur, sondern um ein Gesicht geht. Erst als Odette, die weibliche Hauptfigur des Romans, bei Swann die Erinnerung an ein Renaissanceportrait Botticellis wachruft, verliebt er sich in sie – in der Rückbesinnung an das Perfekte, an das Ideal des Freskos der Sephora in der Sixtinischen Kapelle: Die Bezeichnung ‚florentinisches Meisterwerk‘ erwies Swann einen überaus großen Dienst. Sie erlaubte ihm, Odettes Bild in eine Welt der Träume mit hineinzunehmen, zu der es bislang keinen Zugang gehabt hatte und in der es eine Veredelung erfuhr. (…) Und Kuss und Umarmung (…), wo sie zur Krönung der anbetenden Bewunderung für ein Museumsstück wurden, für ihn etwas Übernatürliches und Köstliches bekamen (…) dem er bald mit der Demut, dem rein geistigen Interesse und der Selbstlosigkeit des Künstlers, bald mit dem Egoismus, dem Stolz und der Begehrlichkeit des Sammlers huldigte. (6) Aus der unbestimmten Sympathie, die uns zu einem Meisterwerk hinzieht, das wir betrachten, wurde nun, da er das fleischgewordene Original kannte, ein Verlangen, wie es Odettes Körper ihm zunächst nicht hatte einflößen können.
Ähnliches passiert uns mit den Landschaften Christoph Drexlers, die doch zuallererst Bilder des 21. Jahrhunderts sind. Sie nehmen uns mit zurück vor den Epochenwechsel, in die geruhsame zyklische Zeit früherer Jahrhunderte, ehe der säkulare Humanismus die Idee mathematischer Zeit einführte und lange bevor sich im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Fotografie der ganz große Bruch mit dem traditionellen Zeitverständnis vollzog. Als auch die visuelle Weltordnung noch eine andere war. (7) Die Bildmotive lassen sich tragen von dem Gefühl angehaltener Zeit und der kaum merklichen Irritation durch ihre in den Anklängen an Hopper und de Chirico aufscheinende Unwirklichkeit und latente Bedrohtheit.
Mit diesen seltsam schwebenden Stimmungen des Dazwischen, zwischen Bedrohung und Idylle, bieten Drexlers Bilder keine finalen Rezepturen für den Betrachter. Die Orte in seinen Bildern sind ohne Begrenzungen. Häuser, klein und exponiert, den Blicken und der Witterung ausgesetzt, bilden Schutzzonen, denen man nicht wirklich vertrauen kann. Die Sternsingerformel christus mansionem benedicat, mit Kreide an den Türstock geschrieben, weist in ländlichen Gegenden als christliche Fortsetzung apotropäischer Zeichen und Beschwörungsformeln, die Unglück vom Haus fernhalten sollten, bis heute auf diese Ambivalenz von Vertrauen und Versicherung hin. (8)
Das Haus, von C.G. Jung in einem psychoanalytisch bedeutsamen Sinn als Verlängerung der Seele beschrieben, verweist in seiner Mehrdeutigkeit in Drexlers Bildern auf eben jene Unsicherheit, die der Pluralität unseres Seins geschuldet ist. Hans Blumenberg brachte dies im Gleichnis von dem Försterstöchterlein auf den Punkt, das die Wege nicht kennt, die aus seiner Waldlichtung herausführen:
Weil es noch glauben kann, dass die Lichtung, seine Welt, die Welt ist. Nach Blumenberg steht dieses Mädchen für den Zauber des Singulars, die Erinnerung an den Garten Eden, in dem Leben und Welt identisch sind: Für alle aber, die mehr wissen als das Försterstöchterlein, wird die Idylle zur Tragödie. (9)
Wir, die Betrachter der Bilder Christoph Drexlers, stehen zwischen diesen Ebenen. Wir bedauern mit ihm die verlorene Einheit. Aber wir träumen uns zurück in das große Ganze im Wissen um die Vertreibung aus dem Paradies. Dass wir in mehr als einer Welt leben, ist die Formel für Entdeckungen, die die philosophische Erregung dieses Jahrhunderts ausmachen, bemerkte Blumenberg zum Pluralismus unseres Seins. (10) Wir sind beides, wissend mit der Sehnsucht nach Unwissenheit. Auf eben jene Sehnsucht in uns treffen die Bilder Christoph Drexlers, auf die wir, um noch einmal mit Marcel Proust zu sprechen, jenen Blick [heften], mit dem man am Tag der Abreise eine Landschaft mit sich forttragen möchte, die man für immer verlässt. (11)
Anke Humpeneder-Graf