Linien und Freiräume
Die grafischen Arbeiten Christoph Drexlers stehen in enger Beziehung zu seiner Malerei, und sie sind doch eigenständig. Denn mit Ausnahme der Linolschnitte verzichtet der Maler bei den Zeichnungen und Radierungen auf die Farbe, deren feine Nuancierung seinen Gemälden eine charakteristische Prägung gibt. Der Spielraum der Gestaltung liegt in den Grafiken zumeist zwischen Schwarz und Weiß. Das helle Blatt ist der Grund, auf dem die dunkle Linie das Bild entstehen lässt. Folgen wir der Linie.
Wenig ist notwendig, um ein Haus zu zeichnen. In unserer Tradition ist das Haus ein rechtwinkliger Kasten, auf dem ein mehr oder weniger spitzwinkliges Dach sitzt. Häuser sind zugleich Marken in einer Landschaft. Sie können alleine stehen, eindrucksvoll an einem Hügel oder auf weiter Flur, oder sie formen in Gruppen Siedlungen, Dörfer und Städte, in denen sie sich dann scheinbar auflösen.
Christoph Drexler interessiert sich für die kleineren Einheiten, für eine menschlich erfassbare
Anzahl solcher Landmarken. Am Anfang der Abbildungen grafischer Arbeiten in diesem Katalog steht ein Blatt mit einer Kohlezeichnung, die acht sehr unterschiedliche Häuser zeigt (S. 73). In kleinem Format, in einem eingezeichneten, beinahe quadratischen Rahmen mit abgerundeten Ecken ordnen sich die Häuser auf einer dunklen Fläche, die fast drei Viertel des Bildes ausfüllt. Am hohen Horizont wächst in der Mitte aus den Linien, welche in zahlreichen Schraffuren die Fläche bilden, das größte Haus hervor. Der Horizont geht in die linke Giebelseite über. Das abschüssige Dach lässt den Blick zur rechten unteren Bildecke gleiten. Dieser Bewegung folgen fünf kleine Häuschen, die sich wie im Fluss schräg über die dunkle Fläche nach unten ergießen. Die dunklen Punkte der Fenster lassen keinen Zweifel daran, dass es sich um Behausungen handelt. Mit Abstand dazu nehmen ganz links zwei einzelne kleine Gebäude, die uns mit den Fensterlöchern quasi anschauen, die fallende Bewegung auf. Man benötigt nicht unbedingt den Titel der Zeichnung, um das Motiv zu erkennen: "Häuser am Hang".
Bei sehr genauem Betrachten erkennt man, dass der Maler den Horizont rechts verändert hat, nämlich angepasst und entwickelt, um einen Zustand zu erreichen, der die Komposition in einem harmonischen Kontrast hält. Die Horizontlinie changiert zwischen der Traufe des oberen größeren und dem First des unteren kleineren Hauses. Wir sind eingeladen, den Linienführungen weiter zu folgen, und könnten noch mehr Anknüpfungspunkte benennen. Doch stattdessen wechsle ich zum nächsten Blatt, ein paar Abbildungen weiter. Dort steht ein einsames Haus, das letzte in der Folge der Zeichnungen mit diesem Motiv, diesmal mit dem Bleistift ausgeführt (S.77). Das "Haus mit Schatten" ist ein würfelförmiges, mediterran wirkendes Gebilde mit einer winzigen dunklen Tür in der hellen, uns zugewendeten Wand. Die ganz leicht geneigte Traufe ist als starke Linie gezeichnet. Von der dunklen rechten Stirnwand, die nach hinten fluchtet, geht ein Schattenwurf aus, der den geneigten Boden bedeckt, dann aber in fast rechtem Winkel nach oben führt. Von welcher Seherfahrung her kommt dieses Phänomen? Es scheint ein Schatten an einer unsichtbaren Wand zu sein, der stehen geblieben ist, auch wenn die Wand nicht mehr existieren sollte. Auf diesem Grad der Wahrnehmung lassen sich der dunkle Streifen am linken Blattrand ebenso wie der schmale Streifen in der Mitte des Bildes als Überbleibsel eines weitergedachten und – gemachten Bildentwurfs verstehen, der mit dem Blick aus einem Fenster beginnt (S. 74). Im Hochformat und reduziert auf die wesentlichen Gestaltungselemente ist eine Komposition entstanden, die mit der schon behaupteten Eigenständigkeit der Zeichnung aus der Erfahrung des gelenkten und gegliederten Ausschnitts das Motiv auf die Beziehung von Hausform und Schattenform fokussiert. In der Darstellung von Interieurs finden sich ähnliche Gestaltungen im Verhältnis von Zimmerwänden und Objekten (S. 78 und 79).
Dabei geschieht etwas Wesentliches: Die aus den Linien gestaltete Fläche wird zum Raum. Durch die Wahrnehmung des Hauses als eines körperlichen Gebildes wird mehr als die gesamte obere Hälfte des Blattes im Rhythmus der beiden Streifen – dem Schatten links, dem dünnen Stamm in der Mitte – zum Raum, der mit der Verdichtung der Phänomene im unteren Bilddrittel in ein Spannungsverhältnis tritt. Es ist ganz entscheidend, wie sich die aus der Linie geschaffenen Dinge auf dem Blatt verteilen; sie füllen nicht das Blatt, sondern verschaffen den unsichtbaren Linien Freiraum.
Schließlich folgen in den Abbildungen druckgrafische Arbeiten, die 2011 entstanden sind und mit dem Linolschnitt die Farbe einführen. Wieder wird das Haus zum Motiv gewählt. In den Radierungen mit Aquatinta, also einem flächigen Druckverfahren, noch ohne die Buntheit der Linolschnitte, wählte Christoph Drexler die Umkehrung von positiver und negativer Form, ließ also das abgebildete Haus als helle ungedruckte Fläche in der bedruckten Umgebung stehen (S. 81). Reizvoll wirft es einen dunklen Schatten auf und über die unterschiedlich modulierte Grundfläche, die im Schatten sichtbar bleibt. Das Haus ist in der schon bekannten linearen Perspektive wiedergegeben, ein längliches Gebäude mit Satteldach, die Stirnseite mit dem Fenstergesicht bildparallel, an der verkürzten Schmalseite ein mittiges Tor, und in einer der Versionen mit einem rauchenden Schornstein auf dem Dach. In dieser Fassung tritt das Haus in Beziehung zu einem kleinen Fabrikgebäude, aus dessen Schlot ebenfalls eine Rauchfahne zieht. Zwischen beiden spannt sich der Freiraum. In den weiteren Versionen, insbesondere im farbigen Linolschnitt, bleibt von dieser Beziehung ein heller Winkel in der oberen Bildecke. Schließlich verschwindet das einzelne Haus aus dem Fokus, um mit anderen kleinen Gebäuden genau diese obere Bildecke zu besiedeln und von hier aus die Gestaltung des Blattes zu bestimmen, das vor allem als Farbraum wirkt (S. 83). Die Farbe ist dank spezieller Papierwahl und Anwendung der Drucktechnik bei allen Arbeiten durch kleinste helle Fehlstellen strukturiert und lebendig.
Christoph Drexler hat sowohl in seinem grafischen Werk als auch in seiner Malerei die Bindung an Vor-Bilder gelockert, aber nicht gelöst. Dies ermöglicht eine konzentrierte Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Gestaltens, mit den unendlichen Variationen in den Beziehungen von Linie und Fläche, Grund und Raum, Proportion und Anordnung. Dass die kleinen Häuser auf den beschriebenen Blättern auf den ersten Blick naiv und kindlich wirken, ist natürlich kein Zufall. Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen z. B. Farbfotografien den Ursprung der Bildidee lieferten, hat der Maler für die Motive aus zwei Quellen geschöpft, die nicht in künstlerischer Absicht, sondern in unterschiedlicher Zweckhaftigkeit Häuser nachbilden. Die erste Quelle sprudelt gewissermaßen im Fantasiereich der Kinderstube. Alte Spielzeughäuser, mehr bemalte Holzklötze als konstruierte Modelle, lieferten die Vorlage für die archetypischen Bauten in den Bildern. Die zweite Quelle fand Christoph Drexler unter anderem bei der Beschäftigung mit Exponaten des Stadtmuseums in Fürstenfeldbruck. Es handelt sich um alte Flurkarten, die behördlich etwa bei Grundstücksstreitigkeiten angefertigt wurden. Eine solche aquarellierte Tuschzeichnung des 17. Jahrhunderts zeigt genau jenen naiven Typus eines Häuschens, wie ihn der Maler für seine
Kompositionen übernimmt. Alle Elemente der Zeichnungen oder Drucke sind in einer solchen Karte vorgebildet. Und doch gleichen die Kompositionen des Künstlers nur scheinbar den historischen
Karten.
Es liegt ein elementarer Unterschied zwischen dem zweckfreien Gestalten einer harmonisch-spannungsvollen Komposition und einer pittoresken Landkarte, die als Dokument eine reale Situation abbildet. Wenn die Funktionalität verschwunden ist, ist Platz für den geschilderten Raum, der aus der Beziehung von Linie und Fläche entsteht. Während auf der Landkarte die leere Fläche eben nicht leer ist, sondern Acker, Wiese, Wald oder See darstellt, durchzogen und begrenzt von Wegen, Straßen und Ufern, öffnen sich im Kunstwerk die Flächen zu den Freiräumen, die ihre eigene Wirklichkeit besitzen. In sie kann der Betrachter seine Erinnerungen und daraus erwachsende Stimmungen einbringen, wenn er sie geistig betritt. Doch das ist nicht einmal notwendig. Gewissermaßen vom erhabenen Aussichtspunkt aus können wir die ruhigen Landschaften betrachten und uns von ihren harmonischen Beziehungen ein Gefühl der Größe vermitteln lassen, die in jenen ganz kleinen, aber genau überlegten Beziehungen steckt, zu denen uns die sichtbaren und unsichtbaren Linien führen. Dafür ist nicht zuletzt das intime Medium der Grafik hervorragend geeignet.
Jochen Meister